ÜBER BLUMEN (tirade)
kürzlich sah ich ein foto von hatun sürücü in der zeitung, die im februar 2005 in berlin tempelhof opfer eines ehrenmordes wurde. es war liebe auf den ersten blick, ich heftete mir das foto an die wand, begann eine erzählung über die verstorbene zu schreiben und stürzte in eine persönliche krise. sowas passiert mir öfter, mein mann sagte, ich stehe ja entsetzlich unter strom, und da hatte er zweifellos recht, so beschloß ich, um strom abzubauen, mich dem thema blumen zu widmen, also nicht so sehr gärtnerisch, als vielmehr literarisch. in meinem garten wachsen zwischen dem unkraut ein paar rosen, lilien und vergißmeinicht, und ich dachte, die müssen unbedingt rein in die erzählung über den ehrenmord, zur entspannung, sozusagen, aber ich bin schon sehr bald, nach weniger als zwei minuten, auf schwierigkeiten gestoßen, unüberwindliche schwierigkeiten. denn erstens ist das thema blumen vollkommen abgeschmackt, und zweitens ist es unmöglich, auch nur ansatzweise die schönheit einer blüte zu beschreiben, die reinheit eines tiefen blumenblaus, die frische des frischen rosas einer frisch erblühten rosanen rose (mein gott!), das ist quatsch, das kann man nicht beschreiben, und zu malen ist das privileg der maler, beziehungsweise ihr fluch, denn warum (mein gott!) malen menschen blumen, wo es doch echte blumen gibt, göttliche blumen, von denen ein einzelnes blatt tausendmal schöner ist als jeder noch so kunstvoll gemalte strauß, vom duft ganz zu schweigen, den duft lassen wir hier mal außen vor, der läßt einen ja gleich verstummen, wenn ich meine nase in einer rose vergrabe, könnte ich stundenlang weinen, natürlich vor glück; aber dann hält das glück überhaupt nicht lange vor, ein blick auf die uhr zeigt, das es genau eine minute und 53 sekunden gedauert hat.
apropos zeit und glück muß ich an einen film denken, einen ebenso genialen wie unbekannten essay - film, den außer mir keiner zu kennen scheint, er heißt „sans soleil“, und beginnt mit bildern aus island, weißblonden, lachenden kindern auf einer langen schwarzen teerstraße zwischen baumlosen hügeln, riesiger himmel, am ende ein dorf. ein jahr darauf, das erfahren wir später, würde der nebenstehende vulkan ausbrechen und alles unter mehreren metern asche begraben; der film handelt vorrangig von zeit und glück, weswegen ich ja darauf zu sprechen kam, und irgendwann kommt etwas über wunden vor, das jemand, dessen namen ich vergessen habe, laut dem film gesagt haben soll, ich habe ein schlechtes namensgedächnis, auch an den wortlaut kann ich mich nicht genau erinnern, aber in meinem kopf ist sperrig und schwer die behauptung hängen geblieben, daß die zeit keine wunden heile. im gegenteil lasse die zeit alles, was die wunde hervorgerufen habe, personen, umstände, allmählich verblassen, bis schließlich sie, die wunde, als destillat ihrer selbst allein zurückbleibe, körperlos. „sans soleil“ ist ohne zweifel der beste film, der je gedreht wurde, auch wenn er außer mir keinen interessiert, und das sage ich jetzt nicht aus eitelkeit, denn die eitelkeit, die darin befriedigung finden könnte, einen ausgefallenen geschmack zu haben, wird unendlich überwogen durch die aus dem aus der reihe gefallenen geschmack resultierende einsamkeit, nichts macht einsamer als ein ausgefallener geschmack, es ist todtraurig, viel besser ist es, beispielsweise keinen geschmack zu haben; aber eigentlich wollte ich etwas über blumen sagen.
in sans soleil also, um auf die blumen zurückzukommen, wird sei shonagon zitiert, eine japanische hofdame des elften jahrhunderts, deren werk zu einem nicht unbeträchtlichen teil, und vielleicht ist es sogar der wertvollste teil, aus listen besteht. die frau war klug genug, sich mit adjektiven und attributivsätzen, welch gotteslästerliche zeitverschwendung, nicht aufzuhalten. blüten finden sich bei ihr in der liste namens: dinge, die verlieren, wenn man sie malt. diese liste kommt in sans soleil allerdings nicht vor, dort findet sich die liste der dinge, die herzklopfen verursachen, und ganz abgesehen von dem, was die dichterin in diese liste hineinschreibt, zum beispiel den anblick gerade aus dem ei geschlüpfter vögel, und diesem beispiel müßte man, wenn man bei verstand wäre, wenigstens drei atemzüge raum lassen, also abgesehen von den vögeln hebt der regisseur die liste an sich hervor, ihr kriterium, WAS DAS HERZ HÖHER SCHLAGEN LÄSST. WAS DAS HERZ HÖHER SCHLAGEN LÄSST im kontrast zu beispielsweise, füge ich eigenmächtig hinzu: WAS MAN KAUFEN KANN; WAS DIE ZEIT VERSCHLINGT; WAS IM SONDERANGEBOT IST... unter shonagons schönen listen gibt es eine, die aus dem rahmen fällt, sie heißt: was zu nichts zu gebrauchen ist, und es ist nur eine einzige sache darin aufgeführt: EIN HÄSSLICHER MENSCH, DER EIN SCHLECHTES HERZ HAT. das läßt einen erzittern, vorallem innerlich, instinktiv blicke ich nach abflauen des erzitterns auf die uhr und stelle fest, daß eine minute und 53 sekunden vergangen sind.
ich besitze eine postkarte, die mir vor jahren ein freund geschickt hat, auf der ein hässlicher mensch mit schlechtem herz zu sehen ist und welche ich kürzlich, als handele es sich um die bestmögliche ergänzung, neben das foto von hatun sürücü über meinen schreibtisch gehängt habe, womit wir wieder oder vielmehr noch immer mitten im thema sind. die beiden bilder nebeneinander sind vielleicht die essenz der erzählung, die zu schreiben wäre in bildlicher form, fertig, unumstößlich. die postkarte ist eine gemäldereplikation und zeigt im zentrum einen herrn in roter uniform, seine füsse sind klobig, seine beine fette säulen, im schritt sieht er unter der enganliegenden hose aus wie eine frau. nach oben hin wird er immer kleiner, der brustkorb ist bereits sehr unbedeutend, trotz der goldenen uniformtroddeln, die hände sind die eines säuglings, der kopf sitzt auf dem fetten hals rund und glatt wie eine erbse mit schnäuzer. der gesichtsausdruck gleicht ebenfalls dem einer erbse. um die gestalt herum reihen sich weitere fette erscheinungen in militärgrün, ein mann auf einem spielzeugpferd, frauen, die dem roten bis zur hüfte reichen, ein kniegrosses kind mit säbel. alle haben ein gesicht, rund, dumm, erbsengleich. nur der pudel unten rechts sieht etwas lebhafter aus, er scheint zu grinsen. es handelt sich bei diesem bild um ein gemälde von 1971, genauer: um das offizielle porträt der kolumbianischen militärjunta, gemalt von fernando botero. es ist das hässlichste bild, was ich je gesehen habe, und es erfüllt mich täglich mit mehr ehrfurcht, denn, auch wenn es unfaßbar scheint, scheint es so zu sein, daß der maler dem diktator sein metapyhysisches ebenbild, wie es abstoßender kaum sein könnte, als künstlerische abstraktion seiner größe verkauft hat, mit falschen engelszungen, unter lebensgefahr, und so den tyrannen unter dem vorwand der verherrlichung vor aller welt der lächerlichkeit preisgab. darüber kann man stundenlang weinen, vor bewunderung, natürlich; dann aber ist diese regung doch schnell wieder vorbei, schneller als man dachte, der blick auf die uhr zeigt, daß lediglich eine minute und 53 sekunden vergangen sind, das halbe leben steht bevor, noch immer, und hatun sürücü liegt noch immer in ihrem grab, und ich merke, daß ich ganz schön unter strom stehe, es ist höchste zeit, zu den blumen zurückzukehren, zur entspannung sozusagen.
zwischen zwölf und zweiunddreißig, das ist immerhin der größere teil meines bisherigen lebens, habe ich mich nicht im geringsten für blumen interessiert. es gab so viele andere dinge, vorallem solche, die weit weg waren, antike steinbrocken und gipfel in ewigem eis, und dann gab es auch diktatur und kriege und hungersnot in äthiopien. ich wollte in die welt hinaus, nicht gerade, weil ich davon ausging, es sei eine gute welt, im gegenteil, aber auf der flucht vor unserer leise vor sich hinrottenden gutbürgerlichkeit schien alles grandiose, egal wie grauenhaft, ein schritt in die richtige richtung. dann, sehr plötzlich, ich weiß nicht recht, warum, ist es umgeschlagen. vielleicht war es auch gar nicht plötzlich, nur ich habe es lange nicht bemerkt, jetzt jedenfalls fliehe ich in die entgegengesetzte richtung, richtung freude also, ich verschreibe mir gartenblumen als kur, ich höre sogar mozart, aber auch dabei muß ich weinen, denn was ist lebensfreude, wenn 90 % der bevölkerung fernsehsüchtig sind, dazu gibt es kaum einen tragischeren soundtrack als mozarts jubilieren. vielleicht sollten wir wirklich endlich untergehen, diese zivilisation meine ich, und gegen diesen gedanken hilft nichts, nichts als ganz schnell etwas anderes zu denken, einen starken kaffee zu trinken, das spielzeug aufzuräumen, das die kinder überall herumliegen lassen, meine kinder mit ihrer rätselhaften zukunft auf dem absteigenden ast unserer zivilisation, die sonne strahlt hell durchs fenster, ein herrlicher tag, ja, auch das verrottende hat seinen glanz, immer noch glanz, und ich finde das alles so schade, diesen untergang unserer glanzvollen kultur, daß ich weinen möchte, ein bißchen nur, vor wehmut; aber die tränen wollen, trotz vorhandensein der regung, nicht kommen, auch nach einer minute und dreiundfünfzig sekunden nicht, und die wehmut geht auch nicht weg, kennen sie diese momente, jeder gedanke ein messerstich, da bleibt nur die flucht, ich renne also, was das zeug hält, um etwas anderes zu finden, frieden zum beispiel, oder eine atempause, renne bis zum umfallen, vielleicht findet man so den frieden ja nicht, aber meine liebe zu blumen habe ich dabei komischerweise wiedergefunden, nach dem umfallen vielleicht.
wie in der kindheit betrachte ich die blüten und blätter und die dicken hummeln und all die zahllosen abenteuerlichen geflügelten und ungeflügelten krabbelwesen, deren namen ich nicht kenne. ein schlanker, länglicher käfer verliert in einer frisch aufgeblühten rose den kopf, hektisch sich drehend, fast sich überschlagend, tastet er mit seinem rüssel alles ab, fällt beinahe herunter; kein wunder, ein wesen, daß sich hauptsächlich mit dem geruchssinn orientiert, mitten in einem frisch aufgeblühten rosenkopf. unbegreiflicherweise interessiert sich in meiner umgebung niemand für sowas. ein staksiges tier mit durchsichtigen flügeln, sieht aus wie eine mischung aus heuschrecke und schmetterling, marschiert zielbewußt und unbeirrt den langen stiel einer weißen lilie hinauf, deren blüte oben thront wie der unberührte schnee des mount everest. mein herz hüpft, mich streift die arglose achtlose vollkommenheit der natur, und, ich habe irgendwann mal platon gelesen, und noch andere sachen, ich denke, daß das doch ein spiegel sein muß, daß es das doch auch in uns geben muß, irgendwo, das schöne, die reinheit. auch wenn das schöne und die reinheit natürlich auf jeder kitschpostkarte zu haben sind, wobei ich als eingefleischter kitschhasser mit zunehmendem alter vermute, daß der kitsch die eigentliche höhere wahrheit ist, der ich mich nur allzu schmerzlich entfremdet habe, vor 30 jahren vergoß ich tränen um einen blauen esel, den eine bösartige große schwester für mich erst erfand und dann sterben ließ, was ist nur seitdem mit mir passiert, alles schutz und abwehr, jetzt übrigens tritt sie ihren welpen, meine schwester, wenn er auf den teppich pinkelt, einmal hat sie das tier sogar die treppe runtergekickt, das nur am rande, der esel jedenfalls war ein so perfektes geschöpf, wie ich danach nie mehr eines angetroffen habe, vereinte alle schönheit und tugend in sich und auch das allerreinste blau, kurzum, er mußte jeden menschen über zehn tödlich langweilen, und war schon von daher, mit oder ohne böse schwester, zum tode verurteilt, sowie meine schwester natürlich auch, obwohl sie sich erstaunlich gut hält für ihre vierzig plus. das ist die heutige kosmetikindustrie, vorallem die plastische chirurgie, die hat meine schwester nicht nur von unschönen schwangerschaftsresten, sondern sogar von ihrer nase befreit, jetzt hat sie nur noch ein stups, ohne nase, und sieht ungefähr aus wie barbie, insofern barbie ein aussehen hat, im eigentlichen sinn. ich gäbe viel darum frau sürücü zu fragen, was sie von der weiblichen freiheit hält, die darin besteht, größtmögliche ähnlichkeit mit aktuellen unterwäschereklamen zu erzielen.
übrigens fliegt, während ich dies schreibe, apropos schönheit, vor meinem fenster immer wieder ein schmetterling, wahrscheinlich ist es jedesmal ein anderer, aber immer ist er weiß und fliegt von links nach rechts, das sehe ich aus dem augenwinkel; möglich, daß ich die, die von rechts nach links fliegen, einfach nicht sehe, weil mein eines auge schlechter ist oder mein gehirn einseitig strukturiert, ich gehe davon aus, beschränkt zu sein, und diese annahme beruhigt mich ungemein, genaugenommen ist sie sogar das einzige, was mich aufrecht hält, neben den blumen, also jedes mal, wenn der schmetterling vorbeifliegt, meldet mein hirn, es kommt jemand, ein mensch, oder wenigstens ein hund, und diese verwechslung eines flüchtigen falters mit einem massiven domestizierten säuger müßte man in die liste der erfrischend belustigenden dinge aufnehmen, sie amüsiert mich ausgesprochen, mit anderen worten, hält mich aufrecht. allerdings hält die spirituelle hoffnung auf beschränktheit nicht lange vor, der blick auf die uhr informiert mich, daß ihre dauer auf eine minute und 53 sekunden beschränkt ist.
die wahrheit ist, daß es zwischen den blumen meines gartens häuserschnecken gibt, viel mehr schnecken als schmetterlinge, unglaublich weiche delikate wesen mit noch delikateren fühlern. sie sind, vorallem bei feuchtem wetter, überall, unter blättern, zwischen halmen, an steinen, man kann unmöglich alle sehen, also, durch die simple notwendigkeit, mich in meinem garten fortzubewegen, trete ich drauf. es gibt ein krachendes geräusch und, falls ich wage hinzublicken, auf dem boden zurückbleibenden matsch mit kalksplittern, wo vorher ein zartes wesen mit noch zarteren fühlern war.
das einzige, was mir dazu, als eine art trost, falls es das gibt, einfällt, ist ein gedicht von blake, william, nicht über blumen, sondern über eine totgeklatschte fliege, in welchem er, ein wenig verkürzt, die behauptung aufstellt, wenn denken leben, und mangel an denken tod bedeutet, tot oder lebendig in etwa das äquivalent einer glücklichen fliege zu sein; das wünsche ich mir auf meinem grabstein, sowie im übrigen auch einen birnbaum und vergißmeinicht, soviel zum kitsch, und damit wären wir wieder bei den blumen, diesmal durch schicksalhafte, wenn nicht göttlich zu nennende fügung, in zusammenhang mit blake, william, gestorben 1827, der in einer blauen blume am wegesrand nur eines sieht, das einzig wahre, meine ich, und eben das, was ich auch sehe, vielmehr, eben nicht sehe, sehe wie durch eine wand, aus einer anderen welt, ahnend, aber abgetrennt, etwa so wie NIMM IHN DOCH, GIB IHN MIR HER, DEN VOLLEN MOND, WEINTE DAS KIND, aber das ist nicht blake, sondern ein gedicht von issa, kobayashi, gestorben 1827, ich bin sicher, die beiden hätten sich gut verstanden, auf jeden fall hätte es issa nicht gestört, daß blake vielen als geisteskrank galt, oder wenigstens als idiot; müßte man heutzutage nicht solche angst haben, schon bei kleinen anlässen unter psychopharmaka gesetzt zu werden, würde ich zugeben, daß ich die beiden dichter vor mir sehe, im jahre 1827, wie sie auf einer wolke gemeinsam in den himmel schweben, händchenhaltend; das ist bestimmt wieder der strom, unter dem ich stehe, nun gut, was blake sah, jedenfalls, in der zufälligen feldblume, einem unkraut, genaugenommen, war einfach himmel, nicht SKY, sondern HEAVEN, das reicht, um stundenlang zu weinen, vor ergriffenheit; dann jedoch ist diese regung schon recht schnell wieder vorüber, schneller als man dachte, der blick auf die uhr zeigt, daß lediglich eine minute und 53 sekunden vergangen sind, das halbe leben steht bevor, immer noch, meine bluse hat schweißflecken, igitt, mein kleiner zeh tut weh, wahrscheinlich gebrochen, gebrochen vom leben, von der stuhlkante, vom kleinkind, mama, wie lange noch?, an der bushaltestelle in berlin tempelhof, wo hatun sürücü von ihrem bruder niedergeschossen wurde, welken unterdessen die vergißmeinicht, winzige kränze himmelweiten blumenblaus, dahinter eine unterwäschereklame von c&a, dahinter die hochragende wand der plattenbauten; der himmel gebe, daß die zeit vergeht, himmel!, welch eine kardinalsünde, das zu denken, darüber muß man doch stundenlang weinen, vor scham natürlich, aber dann ist diese regung doch recht schnell vorbei.
schneller, viel schneller als man dachte.
LANDSCHAFT MIT SCHORNSTEINEN
vor einigen wochen haben meine hände einen blassgelben welpen zum sterben in die trockene furche eines blassgelben feldes gelegt. auf meinen handinnenflächen spüre ich die berührung des fells, wie ein mal, jetzt, drei wochen und drei tage später.
ich sitze auf meiner terrasse, die stockrosen blühen, von allen seiten wuchert mir grün entgegen, sogar aus den ritzen zwischen den pflastersteinen. das wetter ist sonnig, aber frisch, über den strahlend blauen himmel ziehen dicke wattewolken. zu meinen füßen liegt faul und zufrieden eine katze, seit ich sie dabei erwischt habe, wie sie meinen nistkasten mit den jungmeisen darin belagerte, versorge ich sie täglich mit tiernahrung aus dem nahegelegenen supermarkt. genüsslich greife ich nach meiner tasse kaffee. würde man jetzt ein foto machen, gäbe das ein prima werbebild ab, prima plakat für bausparverträge, antifaltencreme, lebensversicherungen und diätmargarine, jedenfalls wenn man das unkraut aus den ritzen der pflastersteine wegretuschierte, kaum zu fassen, wie gut es mir anscheinend geht, und es liegt mir fern zu behaupten, dass es mir etwa nicht gut gehe, mir geht es so blendend, dass ich dem kaum ins auge blicken kann ohne zu blinzeln, manchmal wird mir auch schwindlig. ich führe die tasse kaffee zu meinen lippen, die sich in vorfreude auf das aroma der neuen espressomaschine genüsslich spitzen, das wetter ist sonnig, aber frisch, die stockrosen blühen, ich atme tief durch, verschränke die hände hinter dem kopf und lehne mich zurück.
die gleichen hände haben vor einigen wochen einen blassgelben welpen in die trockene furche eines blassgelben feldes gelegt, zum sterben. das ist das leben, sage ich mir, das aroma der neuen espressomaschine auf den lippen, das licht und die leichte brise auf der haut, das sterben ist eben das leben. die katze schnurrt und streicht mir um die beine, sie sieht genau so aus wie die glückliche katze auf der verpackung des discountkatzenfutters aus dem nahegelegenen supermarkt. vielleicht, sage ich mir, lächeln ja die echten bolivianischen kaffeebauern auch so nett wie die attraktive bäuerin auf der verpackung meines aromatischen espressokaffees mit dem fair trade siegel, und nehme noch einen schluck. dann lege ich die hände, die vor einigen wochen einen blaßgelben welpen in die trockene furche eines blassgelben feldes gelegt haben, zum sterben, in den schoß. namenloser welpe im nordwesten chinas, bedeutungslos, sogar peinlich, daran gedanken zu verlieren, in anbetracht der politischen, humanitären und ökologischen probleme chinas, und in anbetracht der weltlage, ich lehne mich zurück.
ich erinnere mich genau. überall stank es nach kohle, bei bestem wetter war der himmel weiß. ich war von peking in den nordwesten gefahren, um mir ein paar überdimensionale buddhas aus dem fünften jahrhundert anzusehen, world cultural heritage; in eine glatte klippe hatten gläubige herrscher innerhalb eines dreiviertel jahrhunderts ein höhlensystem gravieren lassen, das tausende von mönchen sowie 51.000 statuen beherbergte. der größte buddha könne auf seinen verschränkten beinen 120 personen unterbringen, las ich im zwielicht der höhle in meinem führer, etwas erschlagen lehnte ich mich an seinen großen zeh, ich war versucht, mich liegend in die mulde des erleuchteten fußes zu schmiegen, unterließ es aber im hinblick auf die manchmal vorbeikommenden museumswärter. ich legte den kopf in den nacken; das gesicht der statue war so weit oben, daß es im halbdunkel der höhle fast verschwand, zudem war der stein geschwärzt, ich erkannte nichts als ein dunkles kinn. wo einst mönche meditiert hatten, liefen nun schicke studentinnen mit kleingruppen wohlsituierter chinesen herum und erklärten ihnen ihre heritage, neuerdings pflegt man in china wieder die glorreiche vergangenheit. hinter dem riesen an der wand stand, etwas kleiner, der maitrya buddha der zukunft, sein gesicht voller frieden, hände und füße fehlten ihm von der jahrhunderte andauernden erosion.
m anschließenden raum waren buddhas in die wände graviert, kleine buddhas, ein exemplar nicht größer als ein handteller, dafür aber über zehntausend, vom fußboden bis zur zwanzig meter hohen decke, und alle diese gestalten befanden sich in tiefer versenkung. es war seltsam, plötzlich war ich mit meiner ambition, verblendung und beschränktheit nicht ein sich harmonisch ins große ganze einfügendes rädchen im getriebe, sondern ein dissonantes teilchen in einer übermacht erleuchteter. das war eine neue erfahrung, ich kam mir vor wie ein zwerg, physisch, kulturell und geistig; allerdings waren auch die zehntausend erleuchteten von verfall angefressen und alle miteinander ziemlich schwarz. das lag am ruß der zeche gegenüber.
beim rausgehen informierte mich ein schild zweisprachig, dass die vor dem heiligtum befindliche grube für besichtigungen freigegeben sei und besucher willkommen, einmal untertage und zurück, antidot gegen die skandalberichte über verschüttete bergleute, drei tote, dreißig, dreihundert. im hölzernen vorbau passierte ich eine wenig beachtete bodhisattva - figur, die voll sanften mitleids ihre hand den verblendeten entgegenhielt; ihr blick war ein gräßliches starren aus weit aufgerissenen augenhöhlen. in einer der unzähligen kriegs- und hungerperioden hatte jemand aus not oder gier die jadeaugen aus dem heiligen herausgeklopft und zu geld gemacht, zurückgeblieben waren die geste des mitleids und der leere blick des entsetzens.
ich ging. ich war beeindruckt, aber auch traurig, vielleicht darüber, dass die vergangenheit so gänzlich vergangen war. und irgendwie war die besichtigung viel schneller vorbei als ich angenommen hatte. somit saß ich fest in datong, einer chinesischen kleinstadt mit dreimillionen einwohnern, laut reiseführer der deprimierendsten stadt chinas, hockte im dauersmog und mein zug zurück ging erst in 24 stunden.
ich hatte das gefühl, nicht atmen zu können, außerdem auch nicht zu wollen, weil atmen hier schrecklich ungesund sein musste; duisburg 1960, dachte ich, noch meiner mutter war es als junge frau unmöglich gewesen, wäsche zum trocknen auf den balkon zu hängen, weil sie rabenschwarz wurde. ich starrte aus dem hotelfenster hinaus in den dunkelgrauen abend, vor dem sich eine einsame krüppelkiefer schwärzlich abzeichnete, und beschloss, mich den nächsten tag im zimmer einzuschließen, bis sie mich rausschmeißen würden, laut aushang um vierzehn uhr. dann müsste ich nur noch acht stunden in der hotellobby rumbringen, die war immerhin klimatisiert, ich weiß nicht, ob die klimaanlage die luft irgendwie filterte, jedenfalls war der gestank im gebäude deutlich gedämpft.
am nächsten morgen erwachte ich früh. nachdem ich zwei stunden die schwärzliche krüppelkiefer betrachtet hatte, hielt ich es nicht mehr aus. draußen war herrliches wetter, die sonne schien weißlich durch die abgasglocke. ich ging zum staatlichen touristenbüro, in dem der einzige englischsprechende mensch datongs die reisenden auf busse zu den drei sehenswürdigkeiten der gegend verteilte, das waren außer den riesenbuddhas ein alter hölzerner turm, anfahrt drei stunden, und ein heiliger berg, anfahrt fünf stunden. ich hatte zu lange bei der krüppelkiefer verweilt und war für alle unternehmungen zu spät. der freundliche herr kratzte sich am kopf und empfahl mir nach kurzem zögern den lokalbus nummer acht zur großen mauer. die große mauer, world cultural heritage, hatte ich noch nicht gesehen, also freute ich mich. schöne landschaft, natur, fügte der mann hinzu, das machte die sache unwiderstehlich, hinter mir lagen zwei wochen peking. der herr schrieb auf einen zettel:
hongcipu.
rechts gehen.
fluß durchqueren.
berg besteigen.
das klang einfach. fast wie ein chinesisches gedicht.
an der bushaltestelle befand sich ein dutzend moderner, rot-weiß glänzender busse. dahinter stand die nummer acht, rostiges sechziger- jahre – modell, auf das jemand mit blauer wandfarbe eine acht gemalt hatte. die leute, die wartend darin saßen, versuchten zunächst, mir klarzumachen, dies könne auf keinen fall der bus sein, mit dem ich fahren wollte, ich musste mehrfach meinen zielort wiederholen, hongcipu, hongcipu, bis sie mir glaubten. bei all dem waren sie ausgesprochen freundlich, ja rührend um mich besorgt, und räumten mir, als ich schließlich einstieg, sofort einen platz, kurz dachte ich an zu hause, tonfälle des kundenservice in der gemäßigten zone, steht denn die freundlichkeit der leute in umgekehrtem verhältnis zu ihrem besitzstand, oder zur fruchtbarkeit des bewohnten landes?
wir fuhren durch eine gelbgraue gegend, es war ende april, doch nirgends gab es grün, der boden war etwas zwischen lehm und stein, worauf nichts wuchs, durchzogen von senkrechten schluchten. mein reiseführer mit den vielen bunten bildern drin erklärte mir das nicht, waren es versiegte wasserarme, erdbebenrisse oder winderosion, vielleicht war es alles zusammen, denn die gegend war sowohl trocken, als auch erdbebengefährdet, und wurde von mongolischen stürmen heimgesucht. ab und zu hatte man kiefern an den straßenrand gepflanzt, sie waren anthrazitfarben und weitgehend nadellos. wir passierten eine baumschule, riesiges feld mit tausenden von sprösslingen, kochtopfgroß, masse ist hoffnung, einer wird überleben; dann wieder löss mit abgründen. irgendwann entdeckte ich in der ferne eine schafherde, mein herz hüpfte vor freude über den anblick lebendiger säugetiere; wahrscheinlich starben hier auch die schafe vorzeitig an lungenkrebs, aber es war doch schön, dass es sie gab. dann waren sie auch schon vorbei.
die silhouette einer fabrik tauchte auf, die luft war nach einer stunde fahrt keinen deut besser geworden, und als die schornsteine nahe gekommen waren, hielt der bus und der schaffner informierte mich herzlich und bestimmt, dass dies hongcipu sei. kurz wehrte sich etwas in mir, mich streifte der gedanke, einfach sitzenzubleiben, weiterzufahren, bis es irgendwo so aussähe, wie ich mir „land“ vorstelle, blumenwiese mit kühen, dann ergab ich mich und sprang auf die heiße straße.
der ort lag rechts, er war eine ansammlung verlotterter ziegelhütten, deren zentralachse als mülldeponie genutzt wurde. am ende des dorfes lag die fabrik, das einzige ordentliche gebäude, sauber, modern, gepflegt, aus dessen schornsteinen schwefelgelbe, weißliche und dunkelbraune rauchsäulen gen himmel stiegen. eine gruppe von arbeitern hockte vor dem mit bunten wimpeln geschmückten tor beim kartenspiel, das war der hübscheste fleck im ort. dahinter war das dorf zuende, den abschluss bildete ein riesiger lehmquader. ich vermutete, dass es sich bei diesem klotz um etwas historisches handelte, er wirkte gar nicht bäuerlich, wie er da übergroß in die gegend ragte, auch war er fast gänzlich massiv, man konnte kaum hineingehen, er hatte überhaupt keinen praktischen nutzen; das musste etwas militärisches sein. da ich niemanden fragen konnte, stellte ich mir vor, vor einem stück festung aus der ming - dynastie zu stehen, einem ausläufer oder vorboten der großen mauer, um derentwillen ich gekommen war. vom ort her lehnten sich baracken dagegen, auf der anderen seite dehnte sich eine flache müllhalde in die landschaft, schwarze ebene, auf der man plastik verbrannte. dahinter lag hellgrau eine kahle hügelkette im dunst, dort musste ich wohl hin.
ich lief durch schwelende haufen, vorbei an fetzen, verkokelten milchtüten, skeletten von schuhen. kaum war ich ein paar schritte gegangen, knatterte von hinten ein motorroller heran. ich trat zur seite, doch der roller hielt in einer beeindruckenten wolke aus asche und staub. zu mir drehte sich mit breitem grinsen eine mongolin meines alters mit beeindruckenden zähnen, eine hälfte karamellbraun, die andere pures gold, sie lud mich ein, aufzusteigen, und obwohl ich keine ahnung hatte, wo sie hinwollte, und beinahe ebenso wenig, wo mein ziel lag, war ablehnung ausgeschlossen.
wir holperten über die steinige lehmstraße, ich klammerte mich, hin und wieder schreckensschreie unterdrückend, an den dreckigen gepäckträger. wir durchfuhren den fluss, er war ein schwefelgelbes rinnsal, und erreichten eine art siedlung, vielleicht war es auch eine fabrik, acht, neun häuser, maschinen, ein sandhaufen, groß wie der ganze ort; davor, mit milchkanne, ein kind. ich stieg ab, die mongolin sprach lebhaft, lud sie mich ein?, ich verstand nicht, vielleicht wollte ich auch gar nicht eingeladen werden, „große mauer“ sagte ich immer wieder, sie winkte ab, jetzt unwillig, „geh du nur“, das verstand ich.
ein pfad führte zum fuß der hügel, daran grenzten äcker, gelbgrau in graugelber landschaft, auf einem waren maispflanzen, noch winzig, gerade im begriff zu sprießen. es piepte. ich schaute mich um, einen seltenen vogel vermutend in der einöde; in einer trockenen furche lagen zwei blassgelbe welpen, faustgroß, noch blind. das dorf war voll dreckiger köter gewesen, dies war der überschuss. der eine hund fiepte wie von sinnen und wühlte verzweifelt im staub, der andere hechelte nur noch und zuckte hin und wieder. von ihm machte ich, weiß der himmel warum, ein foto, um mich zu erinnern, um es mir zu merken, um beweise zu haben zu hause in meinem privaten garten eden, in dem mir die katze, die genau so aussieht wie die glückliche katze auf der discountkatzenfutterverpackung des nahegelegenen supermarkts, um die beine schnurrt.
den lebendigeren welpen habe ich kurz in die hände genommen und gestreichelt, er schnüffelte aufgeregt an meinen fingern, wahrscheinlich wähnte er sich gerettet, und ich habe mit lauter stimme zu ihm gesagt: „es tut mir leid, du wirst jetzt sterben, in ein paar stunden, hoffentlich schnell, ich hoffe, es tut nicht allzu weh, vor ein paar jahrzehnten sind hier noch menschen verhungert, auf wiedersehen.“ dann habe ich ihn zurück in die furche gelegt, komischerweise war er ganz still, vielleicht voller hoffnung, und ich habe mich, solange er still war, schnell davongestohlen.
dann sah ich vor mir die große mauer, gelbgrauer bau, der sich in die gelbgrauen hügel erstreckte, weiter als das auge reichte in der gelbgrauen luft; world cultural heritage, verfallende lehmwand mit klotzigen wachtürmen, den erbauern war es nicht um schönheit gegangen. ich lief darauf zu, durch den smog, über erde wie staub, world cultural heritage, in die versehrte landschaft.