Barbara Kenneweg
Autorin und Regisseurin

LANDSCHAFT MIT SCHORNSTEINEN

 

vor einigen wochen haben meine hände einen blassgelben welpen zum sterben in die trockene furche eines blassgelben feldes gelegt. auf meinen handinnenflächen spüre ich die berührung des fells, wie ein mal, jetzt, drei wochen und drei tage später.
ich sitze auf meiner terrasse, die stockrosen blühen, von allen seiten wuchert mir grün entgegen, sogar aus den ritzen zwischen den pflastersteinen. das wetter ist sonnig, aber frisch, über den strahlend blauen himmel ziehen dicke wattewolken. zu meinen füßen liegt faul und zufrieden eine katze, seit ich sie dabei erwischt habe, wie sie meinen nistkasten mit den jungmeisen darin belagerte, versorge ich sie täglich mit tiernahrung aus dem nahegelegenen supermarkt. genüsslich greife ich nach meiner tasse kaffee. würde man jetzt ein foto machen, gäbe das ein prima werbebild ab, prima plakat für bausparverträge, antifaltencreme, lebensversicherungen und diätmargarine, jedenfalls wenn man das unkraut aus den ritzen der pflastersteine wegretuschierte, kaum zu fassen, wie gut es mir anscheinend geht, und es liegt mir fern zu behaupten, dass es mir etwa nicht gut gehe, mir geht es so blendend, dass ich dem kaum ins auge blicken kann ohne zu blinzeln, manchmal wird mir auch schwindlig. ich führe die tasse kaffee zu meinen lippen, die sich in vorfreude auf das aroma der neuen espressomaschine genüsslich spitzen, das wetter ist sonnig, aber frisch, die stockrosen blühen, ich atme tief durch, verschränke die hände hinter dem kopf und lehne mich zurück.
die gleichen hände haben vor einigen wochen einen blassgelben welpen in die trockene furche eines blassgelben feldes gelegt, zum sterben. das ist das leben, sage ich mir, das aroma der neuen espressomaschine auf den lippen, das licht und die leichte brise auf der haut, das sterben ist eben das leben. die katze schnurrt und streicht mir um die beine, sie sieht genau so aus wie die glückliche katze auf der verpackung des discountkatzenfutters aus dem nahegelegenen supermarkt. vielleicht, sage ich mir, lächeln ja die echten bolivianischen kaffeebauern auch so nett wie die attraktive  bäuerin auf der verpackung meines aromatischen espressokaffees mit dem fair trade siegel, und nehme noch einen schluck. dann lege ich die hände, die vor einigen wochen einen blaßgelben welpen in die trockene furche eines blassgelben feldes gelegt haben, zum sterben, in den schoß. namenloser welpe im nordwesten chinas, bedeutungslos, sogar peinlich, daran gedanken zu verlieren, in anbetracht der politischen, humanitären und ökologischen probleme chinas, und in anbetracht der weltlage, ich lehne mich zurück.
ich erinnere mich genau. überall stank es nach kohle, bei bestem wetter war der himmel weiß. ich war von peking in den nordwesten gefahren, um mir ein paar überdimensionale buddhas aus dem fünften jahrhundert anzusehen, world cultural heritage; in eine glatte klippe hatten gläubige herrscher innerhalb eines dreiviertel jahrhunderts ein höhlensystem gravieren lassen, das tausende von mönchen sowie 51.000 statuen beherbergte. der größte buddha könne auf seinen verschränkten beinen 120 personen unterbringen, las ich im zwielicht der höhle in meinem führer, etwas erschlagen lehnte ich mich an seinen großen zeh, ich war versucht, mich liegend in die mulde des erleuchteten fußes zu schmiegen, unterließ es aber im hinblick auf die manchmal vorbeikommenden museumswärter. ich legte den kopf in den nacken; das gesicht der statue war so weit oben, daß es im halbdunkel der höhle fast verschwand, zudem war der stein geschwärzt, ich erkannte nichts als ein dunkles kinn. wo einst mönche meditiert hatten, liefen nun schicke studentinnen mit kleingruppen wohlsituierter chinesen herum und erklärten ihnen ihre heritage, neuerdings pflegt man in china wieder die glorreiche vergangenheit. hinter dem riesen an der wand stand, etwas kleiner, der maitrya buddha der zukunft, sein gesicht voller frieden, hände und füße fehlten ihm von der jahrhunderte andauernden erosion.
m anschließenden raum waren buddhas in die wände graviert, kleine buddhas, ein exemplar nicht größer als ein handteller, dafür aber über zehntausend, vom fußboden bis zur zwanzig meter hohen decke, und alle diese gestalten befanden sich in tiefer versenkung. es war seltsam, plötzlich war ich mit meiner ambition, verblendung und beschränktheit nicht ein sich harmonisch ins große ganze einfügendes rädchen im getriebe, sondern ein dissonantes teilchen in einer übermacht erleuchteter. das war eine neue erfahrung, ich kam mir vor wie ein zwerg, physisch, kulturell und geistig; allerdings waren auch die zehntausend erleuchteten von verfall angefressen und alle miteinander ziemlich schwarz. das lag am ruß der zeche gegenüber.
beim rausgehen informierte mich ein schild zweisprachig, dass die vor dem heiligtum befindliche grube für besichtigungen freigegeben sei und besucher willkommen, einmal untertage und zurück, antidot gegen die skandalberichte über verschüttete bergleute, drei tote, dreißig, dreihundert. im hölzernen vorbau passierte ich eine wenig beachtete bodhisattva - figur, die voll sanften mitleids ihre hand den verblendeten entgegenhielt; ihr blick war ein gräßliches starren aus weit aufgerissenen augenhöhlen. in einer der unzähligen kriegs- und hungerperioden hatte jemand aus not oder gier die jadeaugen aus dem heiligen herausgeklopft und zu geld gemacht, zurückgeblieben waren die geste des mitleids und der leere blick des entsetzens.
ich ging. ich war beeindruckt, aber auch traurig, vielleicht darüber, dass die vergangenheit so gänzlich vergangen war. und irgendwie war die besichtigung viel schneller vorbei als ich angenommen hatte. somit saß ich fest in datong, einer chinesischen kleinstadt mit dreimillionen einwohnern, laut reiseführer der deprimierendsten stadt chinas, hockte im dauersmog und mein zug zurück ging erst in 24 stunden.
ich hatte das gefühl, nicht atmen zu können, außerdem auch nicht zu wollen, weil atmen hier schrecklich ungesund sein musste; duisburg 1960, dachte ich, noch meiner mutter war es als junge frau unmöglich gewesen, wäsche zum trocknen auf den balkon zu hängen, weil sie rabenschwarz wurde. ich starrte aus dem hotelfenster hinaus in den dunkelgrauen abend, vor dem sich eine einsame krüppelkiefer schwärzlich abzeichnete, und beschloss, mich den nächsten tag im zimmer einzuschließen, bis sie mich rausschmeißen würden, laut aushang um vierzehn uhr. dann müsste ich nur noch acht stunden in der hotellobby rumbringen, die war immerhin klimatisiert, ich weiß nicht, ob die klimaanlage die luft irgendwie filterte, jedenfalls war der gestank im gebäude deutlich gedämpft.
am nächsten morgen erwachte ich früh. nachdem ich zwei stunden die schwärzliche krüppelkiefer betrachtet hatte, hielt ich es nicht mehr aus. draußen war herrliches wetter, die sonne schien weißlich durch die abgasglocke. ich ging zum staatlichen touristenbüro, in dem der einzige englischsprechende mensch datongs die reisenden auf busse zu den drei sehenswürdigkeiten der gegend verteilte, das waren außer den riesenbuddhas ein alter hölzerner turm, anfahrt drei stunden, und ein heiliger berg, anfahrt fünf stunden. ich hatte zu lange bei der krüppelkiefer verweilt und war für alle unternehmungen zu spät. der freundliche herr kratzte sich am kopf und empfahl mir nach kurzem zögern den lokalbus nummer acht zur großen mauer. die große mauer, world cultural heritage, hatte ich noch nicht gesehen, also freute ich mich. schöne landschaft, natur, fügte der mann hinzu, das machte die sache unwiderstehlich, hinter mir lagen zwei wochen peking. der herr schrieb auf einen zettel:
hongcipu.
rechts gehen.
fluß durchqueren.
berg besteigen.
das klang einfach. fast wie ein chinesisches gedicht.
an der bushaltestelle befand sich ein dutzend moderner, rot-weiß glänzender busse. dahinter stand die nummer acht, rostiges sechziger- jahre – modell, auf das jemand mit blauer wandfarbe eine acht gemalt hatte. die leute, die wartend darin saßen, versuchten zunächst, mir klarzumachen, dies könne auf keinen fall der bus sein, mit dem ich fahren wollte, ich musste mehrfach meinen zielort wiederholen, hongcipu, hongcipu, bis sie mir glaubten. bei all dem waren sie ausgesprochen freundlich, ja rührend um mich besorgt, und räumten mir, als ich schließlich einstieg, sofort einen platz, kurz dachte ich an zu hause, tonfälle des kundenservice in der gemäßigten zone, steht denn die freundlichkeit der leute in umgekehrtem verhältnis zu ihrem besitzstand, oder zur fruchtbarkeit des bewohnten landes?
wir fuhren durch eine gelbgraue gegend, es war ende april, doch nirgends gab es grün, der boden war etwas zwischen lehm und stein, worauf nichts wuchs, durchzogen von senkrechten schluchten. mein reiseführer mit den vielen bunten bildern drin erklärte mir das nicht, waren es versiegte wasserarme, erdbebenrisse oder winderosion, vielleicht war es alles zusammen, denn die gegend war sowohl trocken, als auch erdbebengefährdet, und wurde von mongolischen stürmen heimgesucht. ab und zu hatte man kiefern an den straßenrand gepflanzt, sie waren anthrazitfarben und weitgehend nadellos. wir passierten eine baumschule, riesiges feld mit tausenden von sprösslingen, kochtopfgroß, masse ist hoffnung, einer wird überleben; dann wieder löss mit abgründen. irgendwann entdeckte ich in der ferne eine schafherde, mein herz hüpfte vor freude über den anblick lebendiger säugetiere; wahrscheinlich starben hier auch die schafe vorzeitig an lungenkrebs, aber es war doch schön, dass es sie gab. dann waren sie auch schon vorbei.
die silhouette einer fabrik tauchte auf, die luft war nach einer stunde fahrt keinen deut besser geworden, und als die schornsteine nahe gekommen waren, hielt der bus und der schaffner informierte mich herzlich und bestimmt, dass dies hongcipu sei. kurz wehrte sich etwas in mir, mich streifte der gedanke, einfach sitzenzubleiben, weiterzufahren, bis es irgendwo so aussähe, wie ich mir „land“ vorstelle, blumenwiese mit kühen, dann ergab ich mich und sprang auf die heiße straße.
der ort lag rechts, er war eine ansammlung verlotterter ziegelhütten, deren zentralachse als mülldeponie genutzt wurde. am ende des dorfes lag die fabrik, das einzige ordentliche gebäude, sauber, modern, gepflegt, aus dessen schornsteinen schwefelgelbe, weißliche und dunkelbraune rauchsäulen gen himmel stiegen. eine gruppe von arbeitern hockte vor dem mit bunten wimpeln geschmückten tor beim kartenspiel, das war der hübscheste fleck im ort. dahinter war das dorf zuende, den abschluss bildete ein riesiger lehmquader. ich vermutete, dass es sich bei diesem klotz um etwas historisches handelte, er wirkte gar nicht bäuerlich, wie er da übergroß in die gegend ragte, auch war er fast gänzlich massiv, man konnte kaum hineingehen, er hatte überhaupt keinen praktischen nutzen; das musste etwas militärisches sein. da ich niemanden fragen konnte, stellte ich mir vor, vor einem stück festung aus der ming - dynastie zu stehen, einem ausläufer oder vorboten der großen mauer, um derentwillen ich gekommen war. vom ort her lehnten sich baracken dagegen, auf der anderen seite dehnte sich eine flache müllhalde in die landschaft, schwarze ebene, auf der man plastik verbrannte. dahinter lag hellgrau eine kahle hügelkette im dunst, dort musste ich wohl hin.
ich lief durch schwelende haufen, vorbei an fetzen, verkokelten milchtüten, skeletten von schuhen. kaum war ich ein paar schritte gegangen, knatterte von hinten ein motorroller heran. ich trat zur seite, doch der roller hielt in einer beeindruckenten wolke aus asche und staub. zu mir drehte sich mit breitem grinsen eine mongolin meines alters mit beeindruckenden zähnen, eine hälfte karamellbraun, die andere pures gold, sie lud mich ein, aufzusteigen, und obwohl ich keine ahnung hatte, wo sie hinwollte, und beinahe ebenso wenig, wo mein ziel lag, war ablehnung ausgeschlossen.
wir holperten über die steinige lehmstraße, ich klammerte mich, hin und wieder schreckensschreie unterdrückend, an den dreckigen gepäckträger. wir durchfuhren den fluss, er war ein schwefelgelbes rinnsal, und erreichten eine art siedlung, vielleicht war es auch eine fabrik, acht, neun häuser, maschinen, ein sandhaufen, groß wie der ganze ort; davor, mit milchkanne, ein kind. ich stieg ab, die mongolin sprach lebhaft, lud sie mich ein?, ich verstand nicht, vielleicht wollte ich auch gar nicht eingeladen werden, „große mauer“ sagte ich immer wieder, sie winkte ab, jetzt unwillig, „geh du nur“, das verstand ich.
ein pfad führte zum fuß der hügel, daran grenzten äcker, gelbgrau in graugelber landschaft, auf einem waren maispflanzen, noch winzig, gerade im begriff zu sprießen. es piepte. ich schaute mich um, einen seltenen vogel vermutend in der einöde; in einer trockenen furche lagen zwei blassgelbe welpen,  faustgroß, noch blind. das dorf war voll dreckiger köter gewesen, dies war der überschuss. der eine hund fiepte wie von sinnen und wühlte verzweifelt im staub, der andere hechelte nur noch und zuckte hin und wieder. von ihm machte ich, weiß der himmel warum, ein foto, um mich zu erinnern, um es mir zu merken, um beweise zu haben zu hause in meinem privaten garten eden, in dem mir die katze, die genau so aussieht wie die glückliche katze auf der discountkatzenfutterverpackung des nahegelegenen supermarkts, um die beine schnurrt.
den lebendigeren welpen habe ich kurz in die hände genommen und gestreichelt, er schnüffelte aufgeregt an meinen fingern, wahrscheinlich wähnte er sich gerettet, und ich habe mit lauter stimme zu ihm gesagt: „es tut mir leid, du wirst jetzt sterben, in ein paar stunden, hoffentlich schnell, ich hoffe, es tut nicht allzu weh, vor ein paar jahrzehnten sind hier noch menschen verhungert, auf wiedersehen.“ dann habe ich ihn zurück in die furche gelegt, komischerweise war er ganz still, vielleicht voller hoffnung, und ich habe mich, solange er still war, schnell davongestohlen.
dann sah ich vor mir die große mauer, gelbgrauer bau, der sich in die gelbgrauen hügel erstreckte, weiter als das auge reichte in der gelbgrauen luft; world cultural heritage, verfallende lehmwand mit klotzigen wachtürmen, den erbauern war es nicht um schönheit gegangen. ich lief darauf zu, durch den smog, über erde wie staub, world cultural heritage, in die versehrte landschaft.